
Die schweizerische Neutralität ist in einer schweren Krise. Durchaus ernsthafte und besonnene Stimmen sehen ihn ihr keinen Sinn mehr. Daran kann auch der Versuch rechtskonservativer Kreise, sie prominent in ihrer immerwährenden, bewaffneten Form verbindlich in der Verfassung zu verankern, nichts ändern.
Die ausserordentliche innenpolitische Beliebtheit der Neutralität allerdings ist unbestritten. Ebenso eine Tatsache ist, dass diese Beliebtheit in umgekehrt proportionalem Verhältnis zu deren zunehmend fehlenden Akzeptanz bei vielen anderen Staaten steht. Man kann lange versuchen, die schweizerische Neutralität anderen Regierungen zu erläutern. Das Interesse ist gering, erwartet wird Solidarität, werden Taten.
Nicht die Kommunikation ist das Problem, sondern die Substanz. Die klassische Neutralität helvetischen Zuschnittes scheint aus der Zeit gefallen.
Verbot militärischer Gewaltanwendung
Dabei reflektiert sie eigentlich nachvollziehbare, rationale Verhaltensweisen: Wenn zwei sich streiten, hält der Dritte still. Der ständig Neutrale macht dies zur allgemeinen Maxime, indem er zu verstehen gibt, dass er Waffen nur zur Selbstverteidigung einsetzt. In Zeiten, da der Krieg noch zulässig war, war er damit für die anderen Staaten ein berechenbarer Faktor. Neutralität war damit systemrelevant, denn es resultierte aus ihr ein Sicherheitsgewinn für alle. Daher wurde sie vor dem Ersten Weltkrieg in zwei Haager Konventionen kodifiziert.
Im Zweiten Weltkrieg hielt dieses Fundament, aber im Kalten Krieg begann es zu bröckeln. Die Schweiz gehörte zwar nicht zu einer Militärallianz, aber eindeutig zum Westen. Mit dem wiedererwachten System kollektiver Sicherheit unter der Uno-Charta nach dem Ende des Kalten Kriegs, in dessen Zentrum das Verbot militärischer Gewaltanwendung sowie die Verpflichtung zur friedlichen Streiterledigung stehen, setzte indes der Niedergang der traditionellen Neutralität ein. Sie verlor ihre Basis weitgehend.
Wegen des Gewaltverbots ist für alle Staaten, nicht nur für die Neutralen, allein die Selbstverteidigung zulässig. Wer trotzdem angreift, wird wenn immer möglich mit verbindlichen Kollektivsanktionen bestraft. Hier kann es im Interesse der internationalen Gemeinschaft keine Neutralität gegeben. Daher muss die Schweiz diese Kollektivsanktionen mittragen, andernfalls käme dies einer Solidarisierung mit dem Aggressor gleich.
Die Schweiz sah sich daher in den letzten mehr wie dreissig Jahren veranlasst, alle internationalen Sanktionen umzusetzen und die Neutralität auf einen neutralitätsrechtlichen Kern zu reduzieren. Die vorher umfassend verstandene Neutralitätspolitik, welche zeitweilig die Aussen- und Sicherheitspolitik dominierte, musste aufgrund der gewandelten Umstände weitgehend preisgegeben werden.
Auch sonst ist von der Neutralität wenig übriggeblieben, denn die sich daraus ergebenden Pflichten sind weitgehend durch die Völkerrechtsgrundsätze in den zwischenstaatlichen Beziehungen abgedeckt. Dazu zählt nebst dem Gewaltverbot das Interventionsverbot als Gebot, sich nicht in die Angelegenheit anderer Staaten einzumischen. Kein Staat kann sodann gegen seinen Willen zu militärischen Sanktionen verpflichtet werden. Auch die Beteiligung an einer kollektiven militärischen Selbstverteidigung oder der Beitritt zu einer Militärallianz sind souveräne Entscheidungen jedes Staates.
Die Neutralität braucht es als Begründung des Alleinganges nicht. Vermittlungsaktivitäten sowie gute Dienste leisten auch nicht neutrale Länder, ja sogar Nato-Staaten, und der Angriffskrieg ist sowieso verboten.
Derzeit sind zudem fast alle Konflikte innerstaatliche, in denen das Neutralitätsrecht nicht zur Anwendung gelangt. Der Ukraine-Konflikt ist dabei die grosse Ausnahme. Und gerade hier, wo die Rechtslage klar sein sollte, entzünden sich die Probleme. Es zeigt sich, dass als Folge der geopolitischen Entwicklungen die konzeptionellen Pfeiler des Neutralitätsrechts sowie der Neutralitätspolitik weggebrochen und ihres Gehalts weitgehend entleert worden sind.
Eine verständliche Neutralitätspolitik ist kaum mehr möglich, auch lassen sich wichtige Rechtsfragen nicht mehr befriedigend lösen. Die Frage der direkten oder indirekten Waffenlieferungen an die Ukraine steht exemplarisch für diese Schwierigkeiten. Die Bestimmungen der erwähnten Haager Konventionen von 1907 erweisen sich inhaltlich als zum Teil stark überholt und bleiben für praktisch alle Staaten und in nahezu allen Konflikten irrelevant. Nur knapp ein Fünftel der Staaten dieser Welt ist den Abkommen überhaupt beigetreten, und seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs sind kaum mehr Ratifikationen hinzugekommen.
Binnenpolitischer Mythos
Was also ursprünglich ein sinnvolles Konzept internationaler Friedenssicherung war, ist immer mehr zu einem verklärten binnenpolitischen Mythos verkommen, der aussen- und sicherheitspolitisch dysfunktional wirkt. Auch ohne Substanz bleibt Neutralität zwar ein identitätsbildendes Label, aber ein inhaltlich diffuses. Dies genügt nicht.
International überwiegen für die Schweiz, aber auch für die Staatenwelt die Nachteile gegenüber den Vorteilen immer mehr. Die Schweiz könnte ihre Aussen- und Sicherheitspolitik unter Verzicht auf die Neutralität wohl ohne erhebliche Änderungen weiterführen und noch verstärkt zur Wahrung der Interessen der Schweiz sowie der Weltgemeinschaft einsetzen. Derzeit befindet sie sich demgegenüber in einem handlungshemmenden konzeptionellen Korsett, das sich zuweilen als hausgemachte Neutralitätsfalle entpuppt, wie das Beispiel der Diskussion über die Freigabe bereits exportierter Rüstungsgüter zur Unterstützung der Ukraine zeigt.
Die Neutralität ist gemäss der Bundesverfassung allein ein Mittel zur Wahrung der äusseren Sicherheit und kein Ziel der Aussenpolitik. Ob man sie vor dem Hintergrund dieser Verfassungslage in bestimmten Fällen sistiert oder zu einer Neutralität je nach Konflikt übergeht, wie dies postuliert worden ist, spielt keine Rolle. Es sind dies die letzten Rückzugsgefechte einer zunehmend sinnentleerten Doktrin.
Es ist an der Zeit, ernsthaft darüber nachzudenken, was im Interesse der Schweiz und der Staatenwelt an die Stelle der Neutralität als identitätsbildendes Merkmal mit aussenpolitischer Strahlkraft treten kann. Unparteilichkeit, Disponibilität, Solidarität, das Einstehen für zentrale Normen und Werte wie die Menschenrechte oder das humanitäre Völkerrecht sowie für eine regelbasierte internationale Ordnung im Rahmen des institutionalisierten Multilateralismus: All dies geht auf jeden Fall auch ohne Neutralität – es braucht sie dafür nicht mehr. Wofür dann noch?
Urs Saxer ist Rechtsanwalt, Professor und Mitglied des Instituts für Völkerrecht und ausländisches Verfassungsrecht an der Universität Zürich.
- Quelle (Sat, 15 Jun 2024 13:24:03 +0000): https://www.nzz.ch/meinung/friedenssicherungskonzept-zu-dysfunktionalen-mythos-die-krise-der-neutralitaet-ld.1749793
- Mehr: https://www.inoreader.com/stream/user/1005616023/tag/1212 via PS on Inoreader/view/html?