Kriegsgefahr: Wie kann sich die Schweiz vorbereiten? - Neue Zürcher Zeitung - NZZ (2.4.2024)

«Die wehrhafte Schweiz» von Fred Stauffer an der Schweizerischen Landesausstellung 1939 in Zürich.

Fernseher aus, Zeitung zu, Smartphone umgedreht – und der Krieg ist weg, buchstäblich abgeschaltet. Vielleicht hallt eine böse Ahnung nach, aber die Bedrohung selbst bleibt unwirklich, abstrakt. Krieg liegt zum Glück ausserhalb der eigenen Erfahrungswelt.

Doch die Sicherheitsordnung, von der die Schweiz seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs profitiert, ist akut gefährdet. Es besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass Russland den Krieg gegen die Ukraine gewinnt. Dem Kreml könnte es gelingen, seine Politik mit militärischen Mitteln durchzusetzen. Das Ziel bleibt, die EU und die Nato zu spalten.

Anders als im Kalten Krieg geht es weniger um Ideologie als um Macht, um die Revision der europäischen Geschichte. Der russische Angriff gegen den Westen trifft deshalb auch die Schweiz, ihre demokratischen Institutionen, ihre vernetzte Wirtschaft und die offene Gesellschaft. Der Arm Moskaus reicht weit über Osteuropa hinaus.

Ausgangspunkt «Operationsplan Deutschland»

Auf diese schleichende Offensive Russlands ist die Schweiz weder politisch noch militärisch noch mental vorbereitet. Die sicherheitspolitische Diskussion wird von den lautesten Stimmen beherrscht, und deren Fundamentalopposition würgt jeden konstruktiven Ansatz ab: Mittlerweile verwenden die SVP und die Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA) eine ähnliche Rhetorik, um ihren Anti-Nato-Diskurs voranzutreiben.

Gleichzeitig skizziert der Bundesrat in der aktuellen Armeebotschaft nur sehr zögerlich vier Szenarien, die auch in der Schweiz eintreten könnten. Diskutiert werden erstens eine Bedrohung der inneren Sicherheit, zweitens die Gefahr durch Waffen aus Distanz, drittens ein direkter militärischer Angriff und schliesslich viertens hybride Formen eines machtpolitischen Konflikts.

Die Armee soll sich in Zukunft auf eine Kombination der drei Szenarien einer äusseren Bedrohung ausrichten, aber gleichzeitig sich weiter den zivilen Behörden für Schutz- und Hilfseinsätze zur Verfügung stellen. Der Bundesrat legt das Schwergewicht auf einen hybriden Konflikt, will aber Angriffe aus Distanz oder einen konventionellen Krieg nicht ausschliessen.

Eine abstraktere Beschreibung ist fast nicht möglich. Es ist, als ob sich der Bundesrat nicht getraute, das Parlament und auch die Bevölkerung mit der Realität zu konfrontieren: Der hybride Krieg hat längst begonnen – unter anderem mit Cyberattacken auf die Websites von Schweizer Behörden. Etwa damals, als sich der ukrainische Präsident per Video an die eidgenössischen Räte wandte.

Das deutsche Verteidigungsministerium will solchen Angriffen des Kremls strukturiert begegnen. Die Bundeswehr hat deshalb den Auftrag gefasst, einen «Oplan Deu» auszuarbeiten. Dieser «Operationsplan Deutschland» koordiniert das Handeln der zivilen und der militärischen Behörden im Kampf gegen Desinformation, Cyberangriffe, Spionage und Sabotage – auch von bewaffneten Gruppen.

Eine Aufgabe für das neue Staatssekretariat

Im Fall einer weiteren Eskalation des Kriegs in Osteuropa wäre Deutschland das logistische Zentrum für die Verstärkung der Nato gegen Russland. Für die Bündnispartner ist die Stabilität des rückwärtigen Raums hinter der Front ein kritischer Erfolgsfaktor. Eine solide Vorbereitung auf hybride Bedrohungsformen hat in Deutschland eine höhere Dringlichkeit als in der Schweiz, aber nur auf den ersten Blick.

Die beiden Nachbarländer sind eng miteinander verbunden. Ein Angriff auf eine kritische Infrastruktur in den Alpen würde nicht nur die Schweiz erheblich treffen, sondern die wirtschaftlich stärksten Regionen Europas. Fällt der Strom aus oder werden Strassen oder Schienen unbenutzbar, stockt auch die Autoproduktion im Piemont oder in Baden-Württemberg. Als Nichtmitglied der Nato ist die Schweiz zudem für den Schutz der kritischen Infrastrukturen allein zuständig.

Das Selbstverständnis als «Drehscheibe Europas» gehört zu den strategischen Prämissen der Schweiz – seit der Gründung der alten Eidgenossenschaft und der Eroberung der wichtigsten Alpenübergänge. Heute sind die Datennetze, Verkehrsachsen oder Pipelines derart engmaschig miteinander verbunden, dass die Schweiz als Ganzes eine kritische Infrastruktur darstellt.

Ein «Operationsplan Schweiz» wäre die logische Konsequenz, und sie lässt sich auch aus der aktuellen Lagebeurteilung des Bundesrats ableiten. Denn in der Armeebotschaft wird die bestimmende Möglichkeit als «eskalierender bewaffneter Konflikt» betitelt. Nicht nur die Armee muss sich auf diese Bedrohungsform einstellen, sondern die Schweiz als Gesamtsystem: alle Ebenen des Staates, die Sicherheitsinstrumente und auch die Gesellschaft.

Exakt dafür wurde im Verteidigungsdepartement (VBS) das Staatssekretariat für Sicherheit (Sepos) geschaffen. Die ursprüngliche Idee, ein eigentliches Zentrum gegen hybride Angriffe aufzubauen, wurde zurechtgestutzt. Es gehört nun zu den Herausforderungen des Staatssekretärs Markus Mäder und seines Teams, dem Sepos tatsächlich Sinn einzuhauchen – am besten mit einer kohärenten Sicherheitskonzeption über alle Sicherheitslagen hinweg.

Systematik nach Carl von Clausewitz

Gesucht ist eine gemeinsame Grundlage für alle Akteure, die im Fall einer weiteren Eskalation zusammenarbeiten müssen: von der Armee über den Koordinierten Sanitätsdienst bis zur Bundeskanzlei, die für die Abwehr von Desinformation zuständig ist.

Den organisatorischen Rahmen schuf die Schweiz im Kalten Krieg mit der Gesamtverteidigung. Dieser zivil-militärische Schulterschluss sollte die Bevölkerung im Extremfall auch vor den Folgen eines Atomschlags schützen. Die wesentlichen Instrumente der Gesamtverteidigung sind zur Bewältigung ziviler Krisen bis heute erhalten geblieben. Eine Rückbesinnung auf den Ursprung dieses Konzepts bedeutet einen Kraftakt der politischen Kommunikation – eine mentale Klammer.

Vor dem Zweiten Weltkrieg fanden sich zu diesem Zweck Kulturschaffende, Intellektuelle und Politiker in der Bewegung der geistigen Landesverteidigung zusammen. Die Landesausstellung setzte 1939 dem Nationalsozialismus und dem Faschismus den schweizerischen «Landigeist» entgegen. In den 1960er Jahren wurde die ursprüngliche, vereinende Idee dann aber missbraucht, um Andersdenkende auszugrenzen.

Es sind unter anderem die Nachwehen dieser Entfremdung, die dafür sorgen, dass sich die Schweiz heute damit schwertut, innenpolitisch energisch auf die Kriegsgefahr zu reagieren. Ausserdem erschwert die Fragmentierung der medialen Kanäle den Dialog. Wer sich nicht mit der Realität auseinandersetzen will, entschwindet in eine eigene Welt der alternativen Nachrichten.

Wie könnte denn ein «Operationsplan Schweiz» aussehen, der nicht einfach alarmiert, sondern einen breiten Konsens schafft?

Eine mögliche Grundlage ist eine Systematik, die auf der Denkweise des preussischen Kriegsphilosophen Carl von Clausewitz aufbaut. Westliche Armeen verwenden seine Grundsätze für die Planung militärischer Operationen. Clausewitz' Ansatz, den Krieg als Fortsetzung der Politik zu verstehen, ist eine Aufforderung, unterschiedliche Perspektiven einzunehmen, um alle Beteiligten auf das gleiche Ziel auszurichten.

Resilienz der offenen, demokratischen Gesellschaft

«Es kommt darauf an, die vorherrschenden Verhältnisse beider Staaten im Auge zu haben», beschreibt Clausewitz den Kern seiner Methodik: «Aus ihnen wird sich ein gewisser Schwerpunkt, ein Zentrum der Kraft und Bewegung bilden, von welchem das Ganze abhängt, und auf diesen Schwerpunkt des Gegners muss der gesammelte Stoss aller Kräfte gerichtet sein.»

Dieses «Zentrum der Kraftentfaltung» – oder englisch «center of gravity» – meint die Stärken eines Staates, auf die es ein Aggressor abgesehen hat: Das angegriffene Land soll im Herzen getroffen werden und möglichst rasch zusammenbrechen. Im Kampf gegen den Westen will Russland einen konventionellen Krieg möglichst lange hinauszögern und agiert zuerst verdeckt.

Zu den «centers of gravity» des Kremls gehört genau dieses hybride Vorgehen, dann die Einsatzdistanz der Mittel und schliesslich der absolute Wille des Regimes, seine imperialen Ziele auch wirklich durchzusetzen. Putin hat Zeit: Laut russischer Verfassung kann er bis 2036 Präsident bleiben und wäre dann 83-jährig. Der Planungshorizont erstreckt sich also auf etwa zwölf Jahre.

Die nächste Akzentuierung der Offensive ist zu erwarten, falls Russland den Krieg in der Ukraine gewinnt. Ohne energische Unterstützung ist eine solche Entwicklung bereits kommenden Jahr denkbar. Unter Druck sind die Republik Moldau, aber auch die baltischen Staaten, insbesondere Lettland. Zudem kalkuliert der Kreml mit einer möglichst grossen Zahl ukrainischer Flüchtlinge, die sich im Westen niederlassen.

Die Migrationsdebatte ist ein bewährtes Spaltholz. Der Ton in der Politik dürfte sich weiter verschärfen, auch in der Schweiz. Polemik und populistische Positionen schwächen die Resilienz gegenüber einem autoritären Aggressor. Genau deshalb zielt der Kreml zuerst auf das verletzlichste «center of gravity»: die offene Gesellschaft und ihre Spannungsfelder.

Schutz der zivilen Ziele

Die Schweiz hat es bisher geschafft, die Tiefe ihrer Tradition mit dem Wesen eines Einwanderungslandes zu verbinden. Die erste Verteidigungslinie diente also der gesellschaftlichen Resilienz gegen die Desinformation und die Unterwanderung. Wenn sich die Demokratie richtig aufstellt, ist sie robuster, weil elastischer als der starre, absolute Wille zur Macht.

Diese gesellschaftliche Resilienz ist die Grundlage dessen, was in der Schweiz bis Ende der 1980er Jahre mit Wehrwille bezeichnet wurde: die Bereitschaft, das Land zu verteidigen. Die Regierungen der skandinavischen Länder oder des Baltikums ziehen die Bevölkerung längst in die Vorbereitungen für einen möglichen Krieg mit ein. Über Ostern meldete sich auch der polnische Ministerpräsident Donald Tusk mit einer deutlichen Ansage zu Wort: «Wir befinden uns in einer Vorkriegszeit.»

Natürlich ist Nordosteuropa gegenüber Russland wesentlich exponierter als die Schweiz. Doch Russland führt seinen Krieg auf Distanz. Eine nächste Stufe der Eskalation sind Angriffe auf die kritische Infrastruktur. Das Arsenal reicht von Cyberattacken über bewaffnete Gruppen bis zu weitreichenden Waffen: Marschflugkörpern, ballistischen Raketen oder sogenannter «loitering ammunition», Drohnen, die ihr Ziel selber suchen. Weil der Nachschub für bodengestützte Luftverteidigung fehlt, erlebt die Ukraine fast täglich Treffer auf Elektrizitätswerke und andere zivile Einrichtungen.

Ukraine's Kaniv and Dniester hydroelectric power plants were among the deliberate targets of Russian mass air strikes this night. The terrorist state of Russia wishes to repeat the ecological disaster in the Kherson region following Russia's destruction of the Kakhovka HPP.… pic.twitter.com/YVtTGHCQap

— Volodymyr Zelenskyy / Володимир Зеленський (@ZelenskyyUa) March 29, 2024

In einem «Operationsplan Schweiz» müssen deshalb auch die zivilen «centers of gravity» berücksichtigt werden:

  • Urbanisierung: Das Mittelland entwickelt sich faktisch zu einer grossen Stadt mit landwirtschaftlich genutzten Parks. Das steigert die ökonomische Leistungsfähigkeit – um den Preis, dass die Ballungszentren höchst verletzbar sind.
  • Energie: Bei den kritischen Infrastrukturen ist die Stromversorgung wohl am wichtigsten, damit die Schweiz auch bei einer Eskalation weiter funktionieren kann. Die Energiestrategie 2050 sieht keine strategische Reserve für den Kriegsfall vor.
  • Gesundheitswesen: Das schweizerische Gesundheitswesen gehört zur Weltspitze, wurde aber auf Effizienz getrimmt und wäre bei einem Grossereignis wie einem Raketeneinschlag heillos überfordert.

Den Schutz der Bevölkerung und der kritischen Infrastruktur stellen Armee und zivile Behörden gemeinsam sicher. Das Vorgehen in einer angespannten Lage mit möglichen Treffern aus Distanz wurde in der Schweiz seit dem Kalten Krieg nie mehr trainiert. Die Übungen aller Akteure im Rahmen des Sicherheitsverbundes Schweiz brachten in der Vergangenheit stets auch strukturelle Verbesserungen: etwa ein neues Epidemiengesetz nach einem ersten Pandemieszenario in den nuller Jahren.

Ziel: Kein Angriff auf die Schweiz

Die Schweiz verfügt über starke Polizeikorps und gut ausgebildete Infanteristen der Armee, um Ereignisse am Boden zu bewältigen. Die rechtzeitige Beschaffung zusätzlicher Systeme gegen Bedrohungen aus der Luft hingegen ist aus finanziellen Gründen infrage gestellt. Die Verteidigungslinie «Schutz» ist deshalb auch ein Politikum. Angriffe mit Waffen aus Distanz gegen Ziele auf der Alpendrehscheibe Schweiz sind in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts nicht auszuschliessen.

Es braucht also nicht zwingend Panzer am Bodensee, damit das Land akut bedroht ist. Ausgeschlossen ist allerdings nichts: Die höchste Eskalationsstufe, ein Krieg, erhält spätestens dann eine höhere Wahrscheinlichkeit, wenn Europa auseinanderfällt – das Kriegsziel des Kremls: ein neutrales Deutschland, eine dezimierte Nato, eine Rumpf-EU. Für die Schweiz wären uneinige Nachbarländer der militärisch gefährlichste Fall.

Ein «Operationsplan Schweiz» würde deshalb auch die konventionelle Abschreckung beinhalten: Welchen Beitrag will die Schweiz leisten, um Russland vor einer weiteren Eskalation abzuhalten? Bürgerinnen und Bürger in Uniform können ein starkes Zeichen setzen. Die Glaubwürdigkeit – nach innen und nach aussen – hängt davon ab, ob die Schweizer Milizarmee vollständig und professionell ausgerüstet ist.

Die Bundesverfassung beschreibt die Kriegsverhinderung als den eigentlichen Zweck der Landesverteidigung. Darauf wäre auch ein Plan für den Ernstfall ausgerichtet:

  • Verteidigung: Die territoriale Integrität der Schweiz wird nicht verletzt. Die Schweizer Armee erfüllt ihre dissuasive Wirkung.
  • Schutz: Zivile Opfer und Schäden durch weitreichende Waffen werden auf ein absolutes Minimum reduziert. Die kritischen Infrastrukturen funktionieren auch im Verbund mit den Nachbarstaaten weiter.
  • Resilienz: Das Vertrauen in die demokratischen Prozesse und den Rechtsstaat bleibt erhalten. Der gesellschaftliche Diskurs wird friedlich ausgetragen.

Doch die sicherheitspolitische Lage ist noch längst nicht erste Priorität der Realpolitik. Wie auch? Die vergeistigte Expo 02 hat den Landigeist abgelöst. Die Schweiz hat sich in den letzten zwanzig Jahren in einem Wunderland eingerichtet: friedlich, etwas verspielt – und vielleicht auch deshalb innovativ. Die Infrastruktur funktioniert, Krisen sind mit Geld lösbar.

Panikmache ist kontraproduktiv. Die Pandemie hat deutliche Spuren hinterlassen. Ein Teil der Bevölkerung nimmt behördliche Massnahmen mit einem Schulterzucken zur Kenntnis, ein Teil erwartet seither für den Krisenfall klare Anweisungen bis ins kleinste Detail, eine Minderheit hat sich vom Staat abgewandt.

Diesmal geht es aber um Krieg und Frieden. Ein «Operationsplan Schweiz» braucht deshalb eine hohe Akzeptanz. Die neue Lage nur schon zu vermitteln, stellt gegenwärtig die grösste Herausforderung dar. Wenn die Push-Nachricht über die nächste Offensive nicht mehr ignoriert werden kann, ist es zu spät.

Mitarbeit: Jonas Oesch, Cian Jochem (NZZ Visuals)



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