Europa: „Der Ukraine-Krieg hat eine Art ‚europäischen Reflex‘ ausgelöst“ - WELT (4. Juni 2024)

Dominique Reynié 

Quelle: Stéphane Grangier/akg-images

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Der französische Politologe Dominique Reynié gilt als Experte für die öffentliche Meinung in Europa. Er stellt fest, dass die großen Krisen der vergangenen Jahre die Bürger der EU haben umdenken lassen. Das hat auch Folgen für populistische Parteien – wenn sie schlau genug sind, das zu erkennen.

Dominique Reynié ist Generaldirektor des Thinktanks Fondapol in Paris und lehrt Politikwissenschaft an der Elite-Universität Sciences Po. Seine Forschungsschwerpunkte sind die öffentliche Meinung in Europa und Frankreichs Parteien- und Politiklandschaft mit Bezug zu Europa. Vor der Europawahl stellt er eine interessante Entwicklung fest.

WELT: Man spricht derzeit oft von einer „populistischen Welle in Europa", und meint damit vor allem einen Aufschwung von Migrationsgegnern, die aber auch die Europäische Union so, wie sie angelegt wurde, ablehnen. Laut Ihren Untersuchungen ist jedoch der Wunsch, die EU zu verlassen, mit 13 Prozent inzwischen vergleichsweise klein. Wie lässt sich diese Diskrepanz erklären?

Dominique Reynié: Anlässlich der Europawahl zeigt sich, dass ein Großteil der 360 Millionen Bürger sowohl die europäische Idee als auch die demokratischen Werte in hohem Maße befürworten. Die EU kann sich der Unterstützung der Europäer derzeit wirklich sicher sein. Wir beobachten hier also zwei simultane Bewegungen: Einerseits die tief verwurzelte Unterstützung für Europa und den Euro, die mittlerweile fast alle Europäer verbindet, und andererseits die Verbreitung populistischer Stimmen. Die simultane Entwicklung dieser beiden Bewegungen bedeutet allerdings zwangsläufig auch, dass die populistischen Wähler überwiegend für Europa und den Euro sind. Das wiederum sagt den populistischen Politikern ganz klar, dass sie sich ändern müssen, da sie sonst Gefahr laufen, ihre Wähler zu verlieren oder blockiert zu werden. Das hätte zur Folge, dass sie jeglichen Zugang und sogar jede Beteiligung an der Macht verlieren.

WELT: Ist das der Grund, warum einige populistische Parteien, wie etwa das Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen in Frankreich, ihre Verbundenheit mit der EU und dem Euro bekräftigt haben?

Reynié: Meiner Ansicht nach ja. In diesem Sinne erleben wir eine Europäisierung und damit auch eine Neuorientierung der populistischen Parteien, und zwar gerade da, wo sie stark sind, beziehungsweise überall dort, wo sie theoretisch in der Lage sind, an die Macht zu kommen. Die Wähler, die die Populisten bis auf dieses Niveau gebracht haben, sind nun nicht mehr bereit, sie noch weiter nach oben zu tragen, wenn sie sich weiterhin gegen die europäische Grundidee stellen. Die Populisten haben ihre Wähler lange Zeit dadurch begeistert, dass sie ihre Wut offen gezeigt haben, vor allem durch heftige Kritik an der europäischen Idee. Mittlerweile beunruhigt diese Rhetorik die Menschen jedoch. Die Politiker haben also die Wahl, sich entweder auf den Status einer radikalen, medienwirksamen, aber sterilen Minderheit zu beschränken, oder einen Übergang auf eine Machtposition anzuvisieren, die eine proeuropäische Wende von ihnen verlangt. Für diese zweite Wahl hat sich Giorgia Meloni in Italien entschieden.

WELT: Die Staaten, die aus der früheren Sowjetunion hervorgegangen sind, scheinen noch proeuropäischer zu sein als die übrigen. Hat der Krieg in der Ukraine auch das Gespenst der „sowjetischen Gefahr" wieder auferstehen lassen?

Reynié: Der Krieg in der Ukraine hat den europäischen Gedanken bei allen Europäern wiederbelebt. Er ist die wichtigste Triebkraft ihrer Wahlentscheidung. Der Krieg hat eine Art „europäischen Reflex" ausgelöst, so wie man ja auch von einem nationalen Reflex spricht. Die russische Invasion in der Ukraine hat die Europäer dazu gezwungen, ihre eigene extreme Verletzlichkeit zu erkennen. Seit mindestens 15 Jahren bringt jedes Jahr, jede weitere Krise die Europäer dazu, sich ihres eigenen Zustands im Vergleich zum Rest der Welt bewusst zu werden: die Finanzkrise von 2008, der Terrorismus, die Corona-Krise, die Migrationskrise und schließlich die derzeitige enorme geopolitische Instabilität. Diese besorgniserregenden, oft alarmierenden Ereignisse verdeutlichen den Europäern, dass sie von unerbittlichen Mächten unter Druck gesetzt werden, von Staaten wie China beispielsweise, aber auch den USA, sowie von verschiedenen transnationalen Phänomenen, wie etwa digitalen Plattformen, der globalen Erwärmung und finanziellen Bewegungen. Angesichts derartiger Herausforderungen und den damit verbundenen Gefahren ist die nationale Ebene in den Augen der Europäer nicht mehr relevant.

WELT: Das wiedergewonnene Vertrauen in europäische Institutionen könnte man also auch als wachsenden Unmut über den Nationalstaat interpretieren, dem man jetzt nicht mehr zutraut, seine Aufgaben erfüllen zu können?

Reynié: Ja, bei den Bürgern ist eine Art Verlagerung im Gange. Es lässt sich eine immer größere Besorgnis feststellen, wenn es darum geht, die historischen Aufgaben zu erfüllen, mit denen die Völker Europas konfrontiert werden. Die Europäer zweifeln immer mehr an ihren jeweiligen Staaten und erkennen deren Schwächen. Ich nenne diese Zweifel die „Stato-Skepsis". Zwar wird die „Euro-Skepsis" in der Politik und den Medien nach wie vor ausgiebig kommentiert und thematisiert, die „Stato-Skepsis" jedoch nur sehr selten. Dabei ist sie sehr viel konkreter und stärker. Die Ergebnisse unserer Studie zeigen, dass sich die Europäer heute eine zusätzliche, europäische öffentliche Macht wünschen, die die einzelnen Staaten für diese neuen Zeiten wappnen. Es liegt am Mangel einer Europäisierung der öffentlichen Macht, wenn sich die Bürger mit einem nationalistischen Rückzug abfinden.

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WELT: Hat sich dieses Phänomen durch die verschiedenen Migrationskrisen in Europa, vor allem die von 2015, noch verstärkt?

Reynié: Die einzelnen Einwanderungswellen bedeuteten eine weitere Erfahrung der Schwäche oder sogar der Hilflosigkeit der Nationalstaaten. Was gäbe es auch für ein eindeutigeres Anzeichen dieser Ohnmacht als ein nicht vorhandener Schutz der Grenzen? Deshalb steht die Grenzfrage in der öffentlichen Meinung auch im Mittelpunkt: 86 Prozent der Europäer, die wir befragt haben, wollen einen Schutz der gemeinsamen Grenzen. Am 14. Mai 2024 hat die Europäische Union unter enormem Druck und mit der Absicht, den Zorn der Wähler zu verringern, den bereits seit 2019 viel diskutierten Asyl- und Einwanderungspakt verabschiedet. Man muss dieses Hinauszögern hinterfragen, denn entweder ist die EU in der Lage, so viel in ihren Grenzschutz zu investieren, wie es die Europäer fordern. Dann findet auch die „Stato-Skepsis" ihre Antwort in dieser zusätzlichen öffentlichen Gewalt Europas – und der Prozess der Europäisierung der populistischen Bewegungen wird fortgesetzt. Oder Europa hat weiterhin Schwierigkeiten mit der Verteidigung seiner Grenzen und ruft dadurch einen tatsächlichen nationalistischen Abschottungsprozess hervor.

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V.l.: Alice Weidel (AfD), Marine Le Pen (RN), Giorgia Meloni (FdI)

Bündnisse nach der Wahl

WELT: Covid-19 und dann der Krieg in der Ukraine haben dafür gesorgt, dass das Thema der industriellen und energiepolitischen Souveränität wieder diskutiert wird. Haben diese Ideen nicht eher die verschiedensten politischen Parteien beeinflusst, und zwar auch die ganz entschieden proeuropäischen?

Reynié: Ich interpretiere das anders. Die Themen Energie, Gesundheit, Landwirtschaft oder auch Industrie strapazieren die Grenzen des Staates, und eine Souveränität ohne Macht gibt es nicht. Europa braucht Macht, genau wie alle anderen Nationen auch. Auch unter diesem Gesichtspunkt befinden sich die Souveränisten von gestern heutzutage weltweit in Schwierigkeiten, und zwar auch in finanzieller Hinsicht. Das wiederum trifft auf einige europäische Staaten mehr zu als auf andere, doch eine Staatsverschuldung, die außer Kontrolle geraten ist, macht jeden Souveränitätsanspruch hinfällig. Souveränität ist einfach nur ein leerer Begriff, wenn er nicht mit einer großen Macht verbunden ist, und das schließt die Fähigkeit zur Einschüchterung ein. Die Europäer spüren das und fordern deshalb die Schaffung einer zusätzlichen gemeinsamen Armee.

Dieses Interview erschien zuerst bei „Le Figaro". Übersetzt aus dem Französischen von Bettina Schneider.



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