Ukraine: Russische Truppen dringen in Sperrzone von Tschernobyl ein – Gebiete im Süden verloren - WELT
Nach dem Einmarsch russischer Truppen haben die ukrainischen Behörden nach eigenen Angaben die Kontrolle über Teile im Süden des Landes verloren. Das teilte die Regionalverwaltung des Gebiets Cherson am Donnerstag mit. Die Stadt Cherson liegt am Fluss Dnipro. Auch das Gebiet Heni tschesk stehe nicht mehr unter ukrainischer Kontrolle.
Es gab bereits am Nachmittag Bilder, die zeigen, dass russische Truppen am Dnipro den Staudamm von Nowa Kachowka erobert haben sollen. Befürchtet wird, dass Russland auch in die Schwarzmeer-Stadt Odessa einmarschiert. Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach von einer schwierigen Lage im Süden des Landes.
Nach ukrainischen Angaben wurden auch ein Kanal und ein Wasserkraftwerk erobert. Nach der Annexion der ukrainischen Schwarzmeer-Halbinsel 2014 durch Russland hatte die Ukraine den für die Wasserversorgung wichtigen Nord-Krim-Kanal gesperrt.
Zudem hat die russische Armee nach Angaben der ukrainischen Regierung einen Militärflugplatz nahe Kiew eingenommen. Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte am Donnerstag, es handele sich um den wenige Kilometer von der nordwestlich der ukrainischen Hauptstadt gelegenen Flughafen Hostomel. Er habe die ukrainische Armee angewiesen, den Flughafen zurückzuerobern.
N ach ukrainischen Angaben setzen russische Hubschrauber und Flugzeuge Fallschirmjäger an dem Flughafen ab. An der Operation seien 20 Maschinen beteiligt.
Unterdessen hat die ukrainische Hauptstadt Kiew wegen des russischen Angriffs Luftalarm ausgelöst. Die Stadtverwaltung rief am Donnerstag alle Bürgerinnen und Bürger dazu auf, sich in Luftschutzbunkern in Sicherheit zu bringen.
Etwa zehn Stunden nach Beginn des russischen Einmarsches haben die Behörden in der Ukraine Dutzende Tote und Verletzte gemeldet. So habe es in der Stadt Browary nahe Kiew mindestens sechs Tote und zwölf Verletzte gegeben, hieß es am Donnerstagnachmittag aus der Stadtverwaltung. Im Südosten der Ukraine nahe der Hafenstadt Odessa am Schwarzen Meer kamen offiziellen Angaben zufolge acht Männer und zehn Frauen ums Leben. Der Luftangriff auf eine Militärbasis ereignete sich demnach im Dorf Lypezke.
Russische Truppen sind nach Angaben des ukrainischen Grenzschutzes mittlerweile in den nördlichen Teil der Hauptstadtregion Kiew vorgedrungen. Den Angaben zufolge griffen die russischen Streitkräfte ukrainische Stellungen mit Raketen an. Einer Journalistin der Nachrichtenagentur AFP zufolge waren außerdem mehrere tieffliegende Hubschrauber zu sehen, die am Stadtrand von Kiew flogen. Berichten zufolge stand in der Region ein Flugplatz unter Beschuss.
Am Nachmittag erreichten russische Truppen nach Angaben des ukrainischen Innenministeriums die Region Tschernobyl. Die Kämpfe erstrecken sich auch auf das Gebiet des zerstörten Atomreaktors. Nahe des Atommüll-Lagers gebe es Gefechte zwischen ukrainischen und russischen Verbänden, teilte ein Vertreter des Innenministeriums mit. Russische Truppen seien von Belarus aus in das nordukrainische Gebiet eingedrungen, die an dem Atommüll-Lager stationierten Soldaten der ukrainischen Nationalgarde leisteten „hartnäckigen Widerstand" gegen den Angriff. Die russischen Truppen versuchen, das Atomkraftwerk Tsche rnobyl einzunehmen, teilte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Donnerstag mit.
„Unsere Verteidiger geben ihr Leben, damit die Tragödie von 1986 nicht wiederholt wird", schrieb er weiter. „Dies ist eine Kriegserklärung an ganz Europa." Selenskyj verwies damit auf das bisher schlimmste Atomdesaster der Welt, bei dem im April 1986 ein Reaktorblock des Kernkraftwerks von Tschernobyl explodierte. Radioaktives Material wurde damals in die Luft gespien, das sich in Europa ausbreitete. Die Anlage liegt rund 130 Kilometer nördlich der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Den explodierten Reaktorblock umgibt ein Schutzmantel, um radioaktive Lecks zu verhindern. Die gesamte Anlage ist stillgelegt worden.
Russland hat nach eigener Darstellung mittlerweile Dutzende Stellungen des ukrainischen Militärs angegriffen. Es seien 74 Objekte der Bodeninfrastruktur „außer Gefecht" gesetzt worden, sagte der Sprecher des Verteidigungsministeriums, Igor Konaschenkow , der Agentur Interfax zufolge in Moskau. Darunter seien elf Flugplätze, drei Kommandoposten und ein Marinestützpunkt gewesen.
Zudem seien 18 Radarstationen der Boden-Luft-Raketenabwehrsysteme S-300 und Buk-M1 zerstört worden. Nach Moskauer Angaben wurden auch mindestens ein Kampfhubschrauber und mehrere Kampfdrohnen abgeschossen. Grund sei ein Pilotenfehler, hieß es. Diese Angaben ließen sich nicht unabhängig überprüfen.
Beim Absturz eines ukrainischen Militärflugzeugs südlich von Kiew sind nach offiziellen Angaben mindestens fünf Menschen getötet worden. Insgesamt seien 14 Menschen an Bord der Transportmaschine vom Typ Antonow An-26 gewesen, teilte der staatliche ukrainische Katastrophenschutz mit. Die Absturzursache war zunächst unklar.
Die Nato will angesichts der Lage ihre Luft-, Land- und Seestreitkräfte im Osten verstärken. Zudem kündigte das Bündnis an, die Verteidigungspläne für Osteuropa zu aktivieren. Der Oberbefehlshaber der Nato -Streitkräfte bekommt damit weitreichende Befugnisse, um zum Beispiel Truppen anzufordern und zu verlegen. Das erfuhr die Deutsche Presse-Agentur aus Bündniskreisen.
Weiterhin rief die Nato für Freitag einen virtuellen Krisengipfel ein. Das teilten Diplomaten nach einer Dringlichkeitssitzung der 30 Nato-Botschafter in Brüssel mit. In einer offiziellen Erklärung hieß es, das Militärbündnis werde „zusätzliche Schritte" vornehmen, um die Verbündeten zu schützen.
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte in einer Pressekonferenz: „Das ist das neue Normal in unserer Sicherheit." Russland müsse jetzt die „schweren Kosten und Konsequenzen" tragen. Man müsse mit „noch stärkerer Einheit" auf den Angriff reagieren.
„Es ist ein Akt der Aggression gegen das souveräne, unabhängige, friedliche Land und eine ernsthafte Bedrohung für die europäische Sicherheit". Er rufe Russland auf, die Truppen „unverzüglich" zurückzuziehen und „zur Diplomatie zurückzuziehen".
Die ukrainische Armee hat derweil im Osten des Landes nach eigenen Angaben dutzende feindliche Kämpfer getötet. Die Regierungstruppen hätten einen Angriff auf die Stadt Schtschastja in der Region Luhansk abgewehrt und rund „50 russische Besatzer" getötet, teilte der Generalstab der ukrainischen Streitkräfte mit.
Zudem sei ein weiteres Flugzeug der russischen Luftwaffe im Bezirk Kramatorsk abgeschossen worden. Es ist das sechste Militärflugzeug, dass die ukrainische Armee nach eigenen Angaben seit Beginn des Großangriffs zerstört hat.
Die pro-russischen Kämpfer in der Ostukraine hätten nach Angaben aus Moskau erste Geländegewinne erzielt. Igor Konaschenkow, Sprecher des Verteidigungsministeriums in Moskau, sagte im russischen Fernsehen, in der Region Donezk seien die von Russland unterstützten Kämpfer drei Kilometer vorgerückt. In der Region Luhansk sei die ukrainische Armee eineinhalb Kilometer zurückged rängt worden.
Russland habe keine ukrainischen Städte im Visier, sondern gehe mit „Präzisionswaffen" gegen militärische Infrastruktur, Einrichtungen der Luftabwehr und Flugplätze vor, fügte der General hinzu. „Die Zivilbevölkerung hat nichts zu befürchten", sagte er.
Der ukrainische Präsident Selenskyj rief derweil andere Staaten zur Verteidigungshilfe auf. Er forderte Hilfe bei dem Schutz des ukrainischen Luftraums.
Die russischen Streitkräfte hatten am Morgen nach eigenen Angaben die ukrainische Luftabwehr komplett unschädlich gemacht. Die Stützpunkte der ukrainischen Luftwaffe seien mit „präzisionsgelenkter Munition" außer Betrieb gesetzt worden, teilte das Verteidigungsministerium in Moskau mit.

Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba sprach von einer „groß angelegten Invasion der Ukraine". Die Welt „kann und muss Putin stoppen. Es ist Zeit, jetzt zu handeln", forderte er. Selenskyj sagte, Russland attackiere „unsere militärische Infrastruktur".
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Er verhängte das Kriegsrecht. Die Regierung rechnet laut eigenen Angaben nicht mit russischen Angriffen auf zivile Ziele. Es würden keine Angriffe auf Wohngebiete und die zivile Infrastruktur erwartet, sagte ein Berater des Innenministeriums in Kiew.
Putin hatte zuvor in einer nächtlichen Fernsehansprache eine „Militäroperation" in der Ukraine angekündigt. Die Angaben über Manöver lassen sich zunächst zumeist nicht unabhängig verifizieren und basieren auf Meldungen der jeweiligen Streitkräfte.
Die Ukraine wird nach Angaben des ukrainischen Grenzschutzes auch von Belarus aus von der russischen Armee angegriffen. Mit „Artillerie" werde die Ukraine „von russischen Truppen aus Russland und Belarus" beschossen, erklärte der Grenzschutz. Die ukrainischen Streitkräfte würden das Feuer erwidern.
Der russische Staatschef Wladimir Putin hatte zuvor mit seinem belarussischen Kollegen Alexander Lukaschenko telefoniert, um ihn über den Beginn der russischen „Militäroperation" gegen die Ukraine zu informieren, wie das Präsidialamt in Minsk mitteilte. Gegen 5 Uhr morgens (Ortszeit 3 Uhr MEZ) habe es ein Telefonat der beiden Staatschefs gegeben. Dabei habe Putin über die Lage an der ukrainischen Grenze und in der Ostukraine informiert.
Belarussische Truppen sind laut Lukaschenko aber nicht an der Militäroperation beteiligt, wie die Nachrichtenagentur Belta meldet. Russland hatte zuvor in Belarus Truppen an der Grenze zur Ukraine zusammengezogen und dort Militärmanöver abgehalten.
Die russischen Behörden haben für den Fall von Demonstrationen gegen den Einmarsch in die Ukraine mit Strafen gedroht. Wer an Kundgebungen zur „angespannten außenpolitischen Lage" teilnehme, werde strafrechtlich verfolgt, teilte das Investigativkomitee mit. Ähnliche Warnungen veröffentlichten das Innenministerium und die Staatsanwaltschaft.
Auch Aufrufe zur Teilnahme an solchen Veranstaltungen würden „ernsthafte rechtliche Konsequenzen nach sich ziehen", erklärte das Komitee. Das Innenministerium warnte, die Polizei werde im Falle von Demonstrationen „alle notwendigen Maßnahmen ergreifen, um die öffentliche Ordnung zu gewährleisten".
In Online-Netzwerken war zuvor für Donnerstagabend in Moskau und St. Petersburg zu Anti-Kriegs-Demonstrationen aufgerufen worden. Die russische Oppositionsbewegung ist in den vergangenen zwei Jahren jedoch deutlich geschwächt worden. Die wichtigsten Anführer wurden inhaftiert oder ins Exil getrieben.
- Datum: Thu, 24 Feb 2022 17:13:00 +0000
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