February 27, 2022 at 06:02PM aktuell: Ukraine-Krieg: „Damoklesschwert der nuklearen Eskalation“ - WELT
Deutschland liefert Waffen an die Ukraine und beteiligt sich an internationalen Sanktionen gegen Russland. Damit hat die Bundesrepublik eine neue Außenpolitik eingeleitet – und Erwartungen geweckt. Der ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, betonte gegenüber WELT, sein Land hoffe, „dass die Bundesregierung auch in den nächsten schicksalhaften Tagen und Wochen uns mit weiteren Verteidigungswaffen stark unter die Arme greift“.
Melnyk forderte zudem, den Ausschluss aus dem internationalen Zahlungssystem Swift auf alle russischen Banken auszuweiten sowie „einen sofortigen Importstopp für alle russische Rohstoffe, und zwar ohne Ausnahme, nicht nur für Gas, Erdöl, Kohle oder Metalle“.
Nach Einschätzung des Politikwissenschaftlers und Russland-Experten Gustav Gressel vom European Council of Foreign Relations ist jetzt ein Nachschub von Panzerabwehrwaffen und Munition „enorm wichtig“, wie er WELT sagte. „Man muss davon ausgehen, dass allein aufgrund der hohen Anzahl abgeschossener Vehikel, die dokumentiert sind, die Ukraine einen nicht unerheblichen Bestand ihrer bisherigen Munition schon verschossen hat“, sagte Gressel.
Notwendig seien auch verschlüsselte Funkgeräte, Nachtsichtgeräte und Schutzwesten. Er hoffe, dass das nicht die letzte Lieferung sein werde, denn der Kräfteeinsatz auf russischer Seite sei „enorm“.
Gressel ist optimistisch, dass die Sanktionen eine schnellere und umfassendere Wirkung entfalten werden als noch vor einigen Jahren. Das liege auch daran, dass viele Unternehmen sich freiwillig vom russischen Markt zurückzögen. Putins Krieg gegen die Ukraine sei in der russischen Bevölkerung ohnehin umstritten und würde dadurch noch unbeliebter werden.
Johannes Varwick, Professor für internationale Beziehungen und europäische Politik an der Universität Halle-Wittenberg, lobt Deutschland für einen „radikalen Kurswechsel“ in der Außenpolitik, moniert aber, dass dieser „für die aktuellen Entwicklungen zu spät kommt“.
Er gehe „nicht davon aus, dass sich mit Waffenlieferungen eine Änderung des russischen Risikokalküls erreichen lässt. Vielmehr dürfte Russland den Krieg weiter eskalieren“, sagte Varwick WELT. Er sehe als einzige Alternative, „dass die russische Elite sich von Putin distanziert – das ist aber ebenfalls nicht sehr wahrscheinlich“.
Varwick plädierte dafür, es sollten zeitgleich Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland über einen Waffenstillstand sowie eine politische Lösung des Konflikts befördert werden; die Ukraine hat inzwischen einem Treffen von Unterhändlern mit russischen Diplomaten nahe der belarussischen Grenze zugestimmt.
Mit Blick darauf, dass Russlands Präsident Wladimir Putin die russischen Atomstreitkräfte in Alarmbereitschaft versetzt hat, sagte Varwick: „Wir sollten nicht vergessen, dass über dieser Krise auch das Damoklesschwert der nuklearen Eskalation schwebt. Das heißt, wir sollten bedenken, welche Eskalationsmöglichkeiten es noch geben könnte.“
Der bisher verhängte weitgehende Ausschluss Russlands vom internationalen Swift-Bankensystem ist nach Ansicht von Lars Handrich, Geschäftsführer des Beratungsunternehmens DIW Econ, einer Tochter des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, nicht ausreichend.
„Nur umfassende statt gezielte Swift-Sanktionen entfalten die notwendige Wirkung. Die Wirkung ließe sich steigern durch die Kombination mit der Drohung der EU und G 7 mit einem Marktausschluss von Unternehmen, die weiterhin mit Russland Geschäfte machen“, analysierte Handrich in einem WELT-Gastbeitrag.
Handrich verweist auch darauf, dass etwa die Hälfte der Devisen-Reserven Russlands sogenannte Sonderziehungsrechte beim Internationalen Währungsfonds seien. Der IWF müsse den Einsatz dieser Sonderziehungsrechte durch Russland unterbinden, denn der IWF dürfe gemäß Statut keine Kriege finanzieren, schreibt Handrich.
Mit den Sanktionen eines umfassenden Swift-Ausschlusses, dem Marktausschluss und dem Aussetzen der Sonderziehungsrechte würden „die Einnahmequellen des russischen Staates rasch versiegen und die zuvor angehäufte russische Kriegskasse wäre schnell geleert. Eine leere russische Staatskasse ist der wirksamste Hebel zur Beendigung des Krieges in der Ukraine“, so Handrich.
Dass die bisherigen Maßnahmen nicht reichen werden, scheint auch der Ampel-Bundesregierung klar zu sein. Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) betonte in der Sondersitzung des Bundestages am Sonntag, die Regierung werde „bei Waffenimporten und Einsätzen weiter aus tiefster Überzeugung zurückhaltend sein“, aber im Falle des russischen Angriffs auf die Ukraine sei dies notwendig. Sie sprach nicht von zusätzlichen Lieferungen.
Zugleich kündigte sie weitere Sanktionen an. „Putins perfides Spiel ist auf Strecke angelegt, deswegen müssen das auch unsere Sanktionen sein. Deswegen müssen wir so sicherstellen, dass uns nicht nach drei Monaten die Puste ausgeht, sondern diese Sanktionen müssen das System Putin im Kern treffen.“